05.01.2015 · Aktuelles

Flüchtlinge: Von der Kunst des Überlebens

© dkjs/ B.Bernat

Im Interview benennt Prof. Louis-Henri Seukwa die Herausforderungen der Flüchtlingspolitik und erklärt, warum es an der Zeit ist, den "Opferdiskurs" zu verlassen.

DKJS: Prof. Seukwa, Sie betreiben seit über zehn Jahren empirische Forschung zu Themen von Flucht und Migration in Deutschland. Wie bewerten Sie die Tatsache, dass das Thema und damit die geflüchteten Menschen aktuell so viel öffentliche und mediale Aufmerksamkeit erhalten?

Prof. Seukwa: Die Zunahme von Krisenherden in Gestalt von politischen Instabilitäten, Kriegen, Wirtschaftskrisen und Umweltkatastrophen treibt immer mehr Menschen auf die Flucht, wobei allen Statistiken zufolge die Hauptlast der Flüchtlingsaufnahme den Ländern in unmittelbare Nähe der Krisenregionen obliegt. Zudem haben viele Geflüchtete, die Schutz in Europa suchen wollten, die Reise mit ihren Leben bezahlen müssen. Die Außengrenzen Europas und vor allem das Mittelmeer sind zum Massengrab für viele Flüchtlinge geworden.

Dieses makabre Spektakel des Massensterbens liefert meines Erachtens eine der Erklärungen für die aktuelle mediale Fokussierung auf Fluchtproblematiken, wobei es fälschlicherweise vielen Europäern suggeriert, dass Menschen  bereit sind, für die Migration nach Europa ihr Leben zu opfern. Dazu kommt die Tatsache, dass die Bewältigung der politischen, ökonomischen und sozialen Folgen von Flucht und Migration für die Länder und Kommunen eine große Herausforderung darstellt.

Diese Herausforderung ist begleitet von zahlreichen Widersprüchen: So werden Flüchtlingsthemen auf der einen Seite vor allem als sicherheitspolitisches Problem, sprich als Bedrohung für den Wohlstand und Belastung für das Sozialsystem betrachtet. Andererseits werden Stimmen lauter, die Migration und potentiell alle Menschen, die aus anderen Ländern nach Deutschland kommen, als Chance zur Sicherung der Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit sehen. Schließlich gibt es auch diejenigen, die sich den Menschenrechten verpflichtet fühlen und für das Recht auf Migration und das Recht auf Asyl kämpfen.

DKJS: Liegt in der gestiegenen öffentlichen Wahrnehmung auch eine Chance für die Geflüchteten selbst?

Prof. Seukwa: Die Chance könnte darin bestehen, dass durch ein besseres Wissen über die  Lebenswelt und die Lebenslage der Geflüchteten, Ängste, Rassismus, Vorurteile, Diskriminierungen und andere Formen des Ausgeschlossenseins in der Bevölkerung sukzessiv abgebaut werden. Geflüchtete unterliegen in Deutschland starken naturalisierenden Diskursen, als ob Flüchtling ein Persönlichkeitsmerkmal wäre. Dabei wird übersehen, dass der Begriff auf ein Rechtskonstrukt zurückweist, basierend auf Kriterien, die vom Bundesamt für Flucht und Migration festgelegt sind. Dies ist, was der Begriff „Flüchtlingsstatus“ deutlich zum Ausdruck bringt. Anders gesagt, wird niemand durch die Entscheidung, einen Ort zu verlassen, zum Flüchtling, sondern erst durch die institutionellen Handlungen am Ankunftsort: Zum Flüchtling wird man gemacht!   

DKJS: Auf dem DKJS- Fachtag „Ankommen in Deutschland“ am 24. November in Leipzig sprachen Sie davon, dass es an der Zeit ist, den „Opferdiskurs“ zu verlassen. Was meinten Sie damit?

Prof. Seukwa: Damit meine ich zweierlei: Zum einen rufen die für die Anerkennung als Flüchtling von der Genfer Konvention festgelegten Kriterien eine Opferkonstruktion hervor, das heißt sie zwingen die Asylsuchenden ihre Biographien so zu strukturieren, dass sie glaubhaft als Opfer von Verfolgungen und Missbrauch aus politischen, religiösen, ethnischen Gründen oder wegen ihrer sexuellen Orientierung etc. erscheinen. So gesehen ist ein anerkannter Flüchtling grundsätzlich ein Opfer.

Zum anderen bedingt die Logik der Zielgruppenkonstruktion sowie die Finanzierung und Zuwendungslogik in der Sozialen Arbeit, dass die „Klientel“ immer als defizitär dargestellt werden muss, als eine Art Mangelwesen. Und die pädagogischen Maßnahmen sollen helfen, diese Defizite oder diesen Mangel zu beseitigen. Tatsächlich sind Flüchtlinge genau wie alle anderen Menschen jedoch Personen mit Kompetenzen, mit Stärken, mit Ressourcen. Selbstverständlich haben einige besonderen Unterstützungsbedarf, zum Beispiel bei der Bewältigung von Traumata, aber auch dies sollten wir nicht verallgemeinern.

DKJS: Diese Stärkeorientierung mündet in Ihren Arbeiten in den Begriff der „Überlebenskunst“.

Prof. Seukwa: Tatsächlich haben geflüchtete Menschen in ihrem Heimatland häufig bereits sehr lange Zeit unter widrigsten Umständen gelebt – wir kennen die Berichte von Kriegen, Vertreibungen, Wirtschaftskrisen etc. - bis sie sich schließlich entschlossen, ihr Land zu verlassen oder im Falle von Minderjährigen, entweder von ihrer Familie mitgenommen oder alleine nach Deutschland geschickt wurden. Sie haben sich an ihrem Herkunftsort, aber auch während der monate- oder jahrelangen Flucht Kompetenzen des Überlebens angeeignet, die wichtige Ressourcen darstellen, wenn es darum geht, in einem System zu überleben, das von Fremdbestimmung, sozialer Isolation und dauerhafter Unsicherheit geprägt ist, wie es leider in Deutschland oft der Fall ist.

DKJS: Sie sprechen von der Situation Asylsuchender in Deutschland.

Prof. Seukwa: Ganz genau. Als Wissenschaftler spreche ich hier vom „Asyldispositiv“: Damit meine ich die Verflechtung von restriktiven Asylgesetzgebungen (europäisch und national), diskriminierenden behördlichen Praktiken sowie institutionellen Diskriminierungen und negativen allgemeinen gesellschaftlichen Einstellungen, wodurch Flüchtlinge in Deutschland „regiert“ werden. Dieses Dispositiv stellt Anforderungen an das Individuum, die meines Erachtens nur für diejenigen zu bewältigen sind, die über eine spezifische Form der Resilienzfähikeit, die ich mit dem „Habitus der Überlebenskunst“ bezeichne, verfügen. Dazu gehören Haltungen und Verhaltensweisen, die geflüchtete Menschen im Laufe ihrer Sozialisation erworben haben.

So geht es beispielsweise darum, sich von immer neuen Steinen auf dem Weg nicht entmutigen zu lassen, sondern diese als lösbare Herausforderungen anzunehmen, es geht darum, alle Chancen, zum Beispiel die Chancen auf Bildung zu nutzen, trotz ungewisser Zukunft immer weiterzumachen, sich Zuspruch und Ermutigung durch Vertrauenspersonen zu organisieren usw. Die Überlebenskunst meint, den Widrigkeiten des Lebens auf eine einzigartige Weise zu trotzen.

DKJS: Bis 2010 waren Flüchtlingskinder von der Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland ausgenommen. Jetzt gilt sie für alle Kinder. Dort ist auch das Recht auf Zugang zu Bildung verankert.

Prof. Seukwa: Die Anwendung dieser Rechte, das Recht auf den Zugang zu Bildung und sozialer Teilhabe, ist enorm wichtig. Wir sollten geflüchteten Menschen, insbesondere auch Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben, an ihre mitgebrachten Kompetenzen anzuknüpfen, diese im deutschen Bildungssystem zur Entfaltung zu bringen und formale Bildungstitel zu erwerben. Hier könnte noch sehr viel mehr als bislang getan werden.

Unter anderem, indem die Konzepte der Inklusion im Schulwesen auf Flüchtlingskinder und -jugendliche ausgeweitet werden und somit auch das Schulsystem auf die spezifischen Benachteiligungen und Bedürfnisse diese Zielgruppe  pädagogisch, didaktisch, infrastrukturell sowie personell fit gemacht wird. Die Kosten der Marginalisierung von Flüchtlingen sind politisch, ökonomisch, sozial, und ethisch hoch. Wie lange wollen wir uns das noch leisten? 

DKJS: Herzlichen Dank für das Gespräch!


Louis-Henri Seukwa ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der HAW Hamburg. Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre bilden empirische Arbeiten zu Resilienz- und Bildungsforschung unter Bedingungen von Flucht und Asyl, berufliche Eingliederung benachteiligter Jugendlicher, interkulturelle Bildungsforschung, Bildungsprozesse im non-formalen und informellen Sektor sowie international vergleichende Erziehungswissenschaft unter Anwendung qualitativer Methoden.