16.06.2016 · Aktuelles

Schwerpunktthema Neue Migration

Die Kultusministerkonferenz (KMK) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) haben am 16. Juni gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) den Bericht „Bildung in Deutschland 2016“ vorgestellt. Der nunmehr sechste Bildungsbericht beschreibt die Gesamtentwicklung des deutschen Bildungswesens und widmet sich in seinem Schwerpunktkapitel nach 10 Jahren erneut dem Thema „Bildung und Migration“.

Dr. Claudia Bogedan, Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Bremer Senatorin für Kinder und Bildung, fasst zusammen: „Der aktuelle Bildungsbericht zeigt, dass in den letzten Jahren die Bildungsunterschiede von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund verringert werden konnten. Trotz der positiven Entwicklungen dürfen wir uns aber nicht auf dem schon Erreichten ausruhen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Befund, dass vermeintliche auf Migration zurückzuführende Bildungsunterschiede eher auf der sozioökonomischen Situation beruhen. Der Abbau sozialer Ungleichheiten ist somit der Weg zur Verringerung migrationsspezifischer Unterschiede.“

Diesem Ziel widmen sich auch die Transferagenturen für Großstädte. Dr. Lutz Liffers, Leiter der Transferagenturen für Großstädte Hamburg/Bremen, erklärt im Interview, welche besondere Rolle dem Bildungsmanagement in Kommunen bei der Integration von zugewanderten zukommt.

Vor welchen Herausforderungen stehen Kommunen derzeit bei der Integration von Zuwanderern und Geflüchteten?
Die Anforderungen sind so vielfältig wie die Gruppe der Neuzugewanderten. Ein gemeinsames Merkmal ist, dass überdurchschnittlich viele Kinder und Jugendliche nach Deutschland kommen. Hier sind nicht nur Schulen und Kitas gefordert, sondern alle Bildungseinrichtungen einer Kommune: Bibliotheken, Kultureinrichtungen, Bürgerhäuser, Jugendtreffs, Spielgruppen, Vereine und so weiter. Die Heterogenität der sozialen Lebenswirklichkeiten, aus denen die Kinder und Jugendlichen kommen, die Art ihres Aufenthaltsstatus, ihre unterschiedlichen Migrationswege und Muttersprachen und ihre individuellen Erfahrungen mit staatlichen Organisationen erfordern von Bildungseinrichtungen ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und gute pädagogische und organisatorische Konzepte. Sie brauchen Kenntnisse über die neue Migration und eine Haltung, die Diversität als Normalität und nicht als Krise begreift.


Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Neue Migration“?
Neue Migration umfasst die quantitativ und qualitativ stark veränderte Zuwanderung nach 1989. Der Zerfall des „Ostblocks“, die Osterweiterung der EU und die innereuropäische Freizügigkeit, die Jugoslawienkriege, aber auch die andauernden Kriege im arabischen Raum vom ersten Irakkrieg bis zum aktuellen Syrienkrieg, die failed states im afrikanischen Raum, der Afghanistankrieg… all das hat die Bevölkerung in deutschen Kommunen in einem Maße globalisiert, wie es die Arbeitsmigration in den Jahrzehnten zuvor niemals vermocht hat.  


Wie unterstützen die Transferagenturen die Kommunen?
Wir helfen Kommunen dabei, ein plausibles Steuerungs- und Koordinierungssystem aufzubauen, das die Zusammenarbeit der Ämter erleichtert, externe Akteure respektvoll einbezieht und gemeinsamen Wirkungszielen folgt. Die Transferagenturen für Großstädte beraten Kommunen bei der Aufgabe, Ordnung in der Unordnung zu schaffen, also widersprüchliche, komplexe Prozesse zu strukturieren. Dazu gehören Struktur- und Stakeholderanalysen, die Qualifizierung der Mitarbeitenden, der Peeraustausch mit anderen Verwaltungsmitarbeitenden. Wir verstehen uns dabei als critical friend, wir setzen nicht unsere Agenda durch – aber wir haben durchaus einen Plan, der hilfreich für Kommunen sein kann. Und dieser Plan speist sich aus den vielfältigen Erfahrungen, die andere Kommunen bereits gemacht haben. In Mannheim beispielsweise haben Politik und Verwaltung – unterstützt von der Universität Bremen – schon vor einigen Jahren einen Entwicklungsplan für Migration und Bildung aufgestellt. Heute ist dieses strategische Papier dort eine wichtige Orientierung für Verwaltung und Öffentlichkeit bei der Integration der Flüchtlinge.


Warum spielen die Großstädte beim Thema Zuwanderung eine besondere Rolle?
Großstädte sind historisch seit jeher Orte der Zuwanderung. Hier haben neuankommende Menschen die besten Chancen, gesellschaftliche Gestaltungsmacht zu erreichen. Viele Stadtteile sind in diesem Sinne arrival quarters. Sie bieten die notwendigen Strukturen, um anzukommen und es gibt viele informelle und private Anknüpfungspunkte über Sprache, religiöse Orte, Lebensmittelgeschäfte und Familienangehörige. Die Verwaltungsstrukturen von Großstädten lassen sich mit denen von kleinen Städten oder Landkreisen kaum vergleichen. Schon deshalb bringen wir Kommunalverwalter aus Großstädten zusammen.


In den vergangenen Monaten hat sich vor allem eines gezeigt: Viele Kommunen waren mit den ankommenden Flüchtlingen überfordert. Jetzt sollen sie zusätzlich auch noch ein kohärentes Bildungsmanagement aufbauen. Ist das überhaupt machbar?
Das Bild der vollständig überforderten Kommunen stimmt so nicht. Klar hat die Unterbringung einer Million Flüchtlinge innerhalb kürzester Zeit die Kommunen enorm herausgefordert. Aber man muss auch die Hintergründe sehen: Jahrelang wurde nicht mehr in den sozialen Wohnungsbau investiert, schon vor der sogenannten Flüchtlingskrise wurde Wohnraum immer teurer und knapper. Die Unterbringungskrise war eigentlich eine Folge verfehlter Stadtentwicklung. Interessant ist außerdem: Die Anzahl der Zugewanderten aus Südosteuropa oder die Anzahl der unterzubringenden Erstsemester sind in vielen Kommunen weitaus höher als die Zahl der Flüchtlinge.


Aber brauchen Kommunen in der jetzigen Situation nicht vor allem Geld, um Migranten gut zu integrieren?
Bei einem auf Diversität ausgerichteten Bildungsmanagement geht es nicht einfach nur um mehr Geld im System, sondern um Haltungsfragen, politischen Mut und darum, Ressourcen richtig zu bündeln und zu steuern. Richtig ist aber, dass notwendige Veränderungen oft daran scheitern, dass es politisch kaum durchzusetzen ist, das vorhandene Geld vor allem in Bildungseinrichtungen hochdiverser Stadtteile zu investieren. Zwar verteilen viele Kommunen Ressourcen nach Sozialindices, aber der Anteil am Gesamtetat ist meist viel zu gering. Doch vielleicht steckt in der finanziellen Not auch die Chance, die politischen Herausforderungen der neuen Migration ehrlicher anzupacken. Viel Geld verleitet eher dazu, Widersprüche mit Geschenken zu besänftigen.


Wie kann eine kommunale Gesamtstrategie für Bildung soziale Ausgrenzung verhindern?
Eine Kommune muss die Perspektive der Zugewanderten immer mit einbeziehen, am besten über direkte Vertreter aus Integrationsräten und sogenannten Migrantenselbst-organisationen, aber auch Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft. Sehr wichtig ist außerdem die kommunale Kunstszene, in der vor allem in Großstädten viele Künstlerinnen und Künstler arbeiten, die Diversität als Normalität begreifen.


Wie genau wirkt kommunales Bildungsmanagement?
Kommunen können zum Beispiel hohe Flüchtlingszahlen leichter bewältigen, wenn sie über Gremienstrukturen und eine Kultur der Zusammenarbeit zwischen den Ämtern verfügen. Wo Ämter gut kooperieren, entsteht häufig auch soziale Innovation. Das heißt: Es entstehen Lösungswege und Verbesserungen, die einem einzelnen Amt gar nicht einfallen können, weil sie über die eigene Zuständigkeit und Fachlichkeit hinausweisen. In Hamburg beispielsweise sind die Regionalen Bildungskonferenzen, die vor mehr als fünf Jahren entwickelt wurden, eine unverzichtbare Struktur für die Bewältigung des hohen Flüchtlingsaufkommens geworden.


Wie wird die Neue Migration die Kommunen verändern?
Die Neue Migration verändert jetzt schon die soziale Realität in den Städten. Nationale Herkunft wird immer unwichtiger, viele Sprachen und Lebensentwürfe werden den Alltag in Deutschland prägen, das lässt sich gar nicht mehr zurückdrehen. Und es wird den Druck auf die Bildungsinstitutionen erhöhen, sich zu verändern. Für die Kommunen liegt das Interesse an einer besseren Integration der Flüchtlinge auf der Hand: Wenn bürgerschaftliches Engagement wächst, wenn Flüchtlinge dazu gehören, wenn Vereine, Schulen, Ämter besser zusammenarbeiten – dann stärkt das die demokratische Verfasstheit der Kommune. Und damit die Lebensqualität aller.


Neue Migration im kommunalen Bildungsmanagement – Dr. Lutz Liffers im Interview