27.03.2024 · Aktuelles

Mitbestimmung als Unterrichtsprinzip

© Frank Scheffka/DKJS

Von Oktober 2021 bis Juni 2023 setzte ein Forschungsteam des Instituts für Grundschulforschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eine zweiteilige Studie zum Thema „Demokratiebildung im Grundschulalter“ für die DKJS um. Im Interview mit unserer Expertin Peggy Eckert spricht Selma Cejvan, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Grundschulforschung der Friedrich-Alexander-Universität, über die Relevanz früher Demokratiebildung.

Welche zentralen Erkenntnisse konnten Sie in der Kinderstudie „Kinder reden mit“ gewinnen? Wo können Kinder in der Schule mitbestimmen und welche Wünsche nach Beteiligung haben sie?

Mehr Mitbestimmung, mehr Qualität bei den Mitbestimmungsmöglichkeiten, mehr empowerte Lehrkräfte für einen mitbestimmungssensiblen Grundschulunterricht! In Anlehnung an den Titel der Studie kommen wir als Team zur zentralen Erkenntnis, dass Kinder im Unterricht und im Schulleben mehr mitreden und letztendlich auch mehr mitbestimmen sollten! Die Kinder nehmen vor allem auf der organisatorischen Ebene Mitbestimmungsmöglichkeiten wahr, z. B. bei Regeln, Ritualen und der Klassenzimmergestaltung. Sie geben an, auch beim Wochenplan verhältnismäßig viel mitbestimmen zu dürfen, wobei hier die begriffliche Abgrenzung zur Selbstbestimmung oftmals fehlt. Bei der Sitzplatzwahl nehmen knapp mehr als die Hälfte der befragten Kinder keine oder eine „Pseudomitbestimmung” wahr. „Nein. Ich kann zwar mal in die Klassenboxen einen Zettel reinwerfen.”, so ein Kind, das zwar seine Meinung sagen kann, aber ohne Konsequenzen. Des Weiteren nehmen Kinder im Rahmen von institutionellen Formen Mitbestimmung wahr, jedoch können oftmals lückenhafte bzw. fehlerhafte Konzepte zum Klassenrat und Schüler:innenforum konstatiert werden.

„Ich würde gerne viel, viel mehr mitbestimmen.”, so ein Kind in einem der geführten Einzelinterviews zu seinen Mitbestimmungswünschen.
Kinder wünschen sich, so die Auswertung unserer Studie, insbesondere im Bereich der Fächer und Themen sowie im Unterricht allgemein mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten. Hier wird explizit der Bedarf nach Mitbestimmung auf der unterrichtlichen Ebene geäußert. Dazu gehört auch, dass Kinder nicht nur im Sport- und Musikunterricht das Aufwärmspiel oder das Lied aussuchen dürfen, sondern auch Themen in Deutsch und Mathematik gemeinsam von ALLEN mitbestimmt werden. Darüber hinaus möchten Kinder auch bei der Gestaltung von Unterrichtsmaterialien eingebunden werden. Wünsche und damit Bedarfe nach mehr und qualitätsvoller Mitbestimmung können auch im Bereich der Hausaufgaben und Lernzielkontrollen identifiziert werden, die einer starken Institutionalisierung unterliegen.

Wie sind Sie mit den Kindern ins Gespräch gekommen? Wie und mit welchem Setting werden Interviews und Gruppendiskussionen mit Kindern durchgeführt? Was ist ein Erzähltheater?

In Vorbereitung auf die Durchführung der Kinderstudie war es uns im Team, unter der Leitung von Frau Prof.in Dr. Sabine Martschinke und Frau Prof.in Dr. Sonja Ertl, ein großes Anliegen, ein kindgerechtes Setting für die Erhebung zu entwickeln. Wir haben uns im Team dazu entschlossen, das Erzähltheater, das auch unter dem Namen „Kamishibai” bekannt ist, heranzuziehen. Das Erzähltheater hat in seiner ursprünglichen Verwendung das Potenzial, Kinder visuell an Geschichten teilhaben zu lassen, indem einzelne Bilder gezeigt werden, die die Geschichte in Sinnabschnitte zusammenfasst.

Eine passende Geschichte musste jedoch noch her, die die Neugierde der Kinder weckt. Wir haben uns für Fingerpuppen in Form von Tieren aus dem Dschungel entschieden. Um an der Lebenswirklichkeit der Kinder anzuknüpfen, wurden die Fingerpuppen als Tierschulkinder gemeinsam mit ihrem Lehrer, Herr Ele, personifiziert. Jedes Tierschulkind verkörperte dabei eine Mitbestimmungsfacette nach Ertl, Martschinke und Grüning (2022) und berichtete, wie es im Unterricht und in der Schule seine Mitbestimmungsmöglichkeiten wahrnimmt. Darüber konnten wir die Kinder ermuntern und ermutigen, zu berichten, wie sie Mitbestimmung im schulischen und zum Teil auch im außerschulischen Bereich wahrnehmen und was sie sich für die Zukunft wünschen. Da wir für die Kinder unbekannte Personen waren und eine Erhebung schnell einen Leistungscharakter bekommen kann, war es uns sehr wichtig, eine angstfreie Atmosphäre, losgelöst vom Leistungsdruck, zu schaffen. Im ersten Teil der Studie wurden Einzelinterviews durchgeführt, und dann in der Folgestudie um Gruppendiskussionen erweitert. Ich möchte an dieser Stelle, im Namen des gesamten Teams, noch einmal ein großes DANKE an alle Lehrkräfte und Schulleitungen richten, ohne deren Kooperation die Durchführung der Studie nicht denkbar gewesen wäre!

Warum ist Demokratie an Grundschule wichtig? Warum sollte Demokratiebildung als wichtiges Lernfeld bereits in der Grundschule stattfinden und was braucht es dafür?

Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklung erscheint mir die Notwendigkeit umso größer, Demokratiebildung bereits im Grundschulalter fest zu etablieren, um Kinder zu demokratisch agierenden Persönlichkeiten zu befähigen. Dafür braucht es Anstrengungen auf unterschiedlichen Ebenen und von allen Aktueur:innen, aber es braucht vor allem Erwachsene – hier Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte – als wichtige Bezugspersonen von Kindern, die die Bedürfnisse und Anliegen der Heranwachsenden ernst nehmen und eine wertschätzende Kommunikation und Beziehung auf Augenhöhe pflegen. Zur Demokratieerziehung gehört auch die Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung, die sich auch auf andere Bereiche positiv auswirkt. Auch müssen überfachliche Kompetenzen, wie etwa das Kommunizieren, Argumentieren und Problemlösen stärker in den Fokus rücken. Es wird dafür plädiert, Mitbestimmung und damit Demokratiebildung in den Lehrplänen präsenter zu machen und nicht ausschließlich auf den Sachunterricht und die Jahrgangsstufen 3 und 4 zu beschränken. Mitbestimmung muss als Unterrichtsprinzip verstanden und von Anfang an angebahnt werden, denn das spiegelt die Lebenswirklichkeit der Kinder wider!

Welche Handlungsempfehlungen und konkrete praktische Impulse können Sie aus der Studie für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte an Schulen ableiten?

Auf Grundlage der Ergebnisse aus der Studie „Kinder reden mit” hat das Team konkrete Handlungsempfehlungen für die Praxis abgeleitet. Wertvoll war dabei auch die Expertise der Kolleginnen, die in der Praxis jahrelang tätig waren oder es immer noch sind.
Wir konnten feststellen, dass Kindern häufig der Mitbestimmungsbegriff mit all seinen Facetten noch nicht geläufig ist. Daraus ziehen wir die Konsequenz, dass alle Mitbestimmungsfacetten in den Klassen etabliert werden müssen. Damit echte Mitbestimmung für Kinder erfahrbar wird, muss zunächst die Auseinandersetzung mit den Facetten erfolgen. Mitbestimmungsmöglichkeiten sollen Kindern regelmäßig eröffnet werden, damit Mitbestimmung fester Bestandteil des Schulalltags wird und damit die demokratischen Kompetenzen der Kinder kontinuierlich gestärkt werden. Mitbestimmung sollte nicht bei organisatorischen Aspekten, wie z. B. den Klassendiensten bleiben, sondern auf die unterrichtliche Ebene erweitert werden. Dazu zählt, dass Kinder stärker in die Unterrichtsplanung eingebunden werden, wie z. B. bei der Erstellung von Arbeitsblättern oder der Themenwahl. Ein Kind notierte den Wunsch: „Und in Mathe und Deutsch die Thema”. Deutlich wird, dass Kinder auch in den Hauptfächern mitbestimmen möchten. Des Weiteren plädieren wir dafür, dass Kinder auch in den „sensiblen” Bereichen, wie etwa den Hausaufgaben oder bei der Leistungsfeststellung und -bewertung mitbestimmen dürfen. Uns ist bewusst, dass dies nicht immer umsetzbar ist – auch aufgrund bestehender Rahmenbedingungen – , jedoch ist die Transparenz über die eigenen Bewertungskriterien oder auch Entscheidungen wünschenswert, damit eine offene Gesprächskultur und Beziehung auf Augenhöhe geschaffen werden, die zentral für gelingende Mitbestimmungsprozesse sind.

An dieser Stelle verweise ich auf den Praxisband „Mitbestimmung in der Grundschule – Anregungen aus der Praxis für die Praxis” (Herausgeberinnen: Prof.in. Dr. Sabine Martschinke, Prof.in. Dr. Sonja Ertl, Prof.in. Dr. Miriam Grüning, Leonora Gerbeshi & Selma Cejvan), der im Frühjahr 2024 im Beltz Juventa Verlag erscheinen wird und für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte Inspirationen sowie konkrete Beispiele und Impulse für die eigene Arbeit in der Praxis bieten wird.

Sie schreiben in der Kinderstudie, dass eine positive Einstellung und Haltung von Lehrkräften zur Mitbestimmung die Umsetzung von Beteiligungsmöglichkeiten begünstigen kann. Inwieweit können sich Einstellungen und Haltungen von Lehrkräften verändern und welche Grundlagen können hier schon in der Lehrkräfteausbildung geschaffen werden?

Es ist grundsätzlich so, dass wir unbewusst, durch Erfahrungen und Beobachtungen, Einstellungen zu diversen Themen entwickeln, die unser Denken und Handeln prägen.  So sind auch im Bereich der Mitbestimmung Lehrkräfte zum einen geprägt von ihren eigenen Erfahrungen aus der Schulzeit und andererseits werden sie täglich mit unterschiedlich komplexen Lehrer:innen-Schüler:innen-Interaktionen und den Gegebenheiten in der Praxis konfrontiert. Dabei entwickeln sich ebenfalls Einstellungen, die sich über die Zeit verfestigen oder verändern bzw. verworfen werden.

Eine Grundvoraussetzung für die Eröffnung von Mitbestimmungsmöglichkeiten ist die demokratische Haltung von Lehrkräften. Im Rahmen der Lehrkräfteaus- und -fortbildung müssen adäquate Angebote für angehende und bereits tätige Lehrkräfte geschaffen werden, um für die Notwendigkeit der Mitbestimmung von Kindern in Schulen und Unterricht zu sensibilisieren. Eine wichtige Stellschraube ist dabei die Veränderung von Einstellungen! Um eine demokratische Haltung entwickeln zu können, müssen (angehende) Lehrkräfte zum Reflektieren angeregt werden. Dazu gehört in erster Linie die Reflexion eigener schulischer Erfahrungen bzw. die Reflexion der eigenen Praxiserfahrungen. Kollegiale Fallberatungen können dabei den Prozess begünstigen, indem Erfahrungen in einem geschützten Rahmen thematisiert und gemeinsam Handlungsstrategien für mehr und qualitätsvolle Mitbestimmung entwickelt werden. Zur Professionalisierung und Weiterbildung von (angehenden) Lehrkräften muss das Potenzial qualitätsvoller Mitbestimmungsmöglichkeiten aufgezeigt und ein entsprechendes Methoden- und Handlungsspektrum entwickelt werden, um hochwertige Mitbestimmung erfahrbar zu machen. Das Ziel es ist, (angehende) Lehrkräfte durch Zuwachs an Wissen und der Bereitschaft zum Reflektieren für einen mitbestimmungssensiblen Unterricht zu empowern, wodurch die Angst vor möglichen Kontrollverlusten abnimmt und eine demokratische Haltung entwickelt wird.

Was ist ihr persönlicher Wunsch zu Demokratie an Grundschule bzw. an demokratische Bildner:innen?

Ich wurde im Rahmen einer Lehrveranstaltung gefragt, ob Lehrkräfte Kindern neben Rechnen, Lesen und Schreiben auch noch demokratische Kompetenzen beibringen müssen. Meine Antwort lautete: JA, gerade demokratische Kompetenzen!

Wenngleich mich diese Unterhaltung im ersten Moment irritierte, ist mir bewusst geworden, dass wir alle als Bildner:innen, Anstrengungen aufbringen müssen, um das traditionelle und veraltete Bild von den zentralen Aufgaben der Grundschule zu reformieren. Dafür braucht es beispielsweise mehr Angebote im Bereich der Lehrkräfteaus- und -fortbildung, konkrete und differenzierte Materialien für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte, die Impulse für echte und qualitätsvolle Mitbestimmung liefern, Workshops und andere Formate für Kinder, die eine Auseinandersetzung mit Mitbestimmung und Demokratiebildung ermöglichen.

Es braucht aber vor allem Erwachsene mit Herz, die die wissbegierigen Heranwachsenden, nach ihren individuellen Möglichkeiten, auf dem Weg zu demokratischen Persönlichkeiten begleiten!

Es braucht dafür keine „perfekten”, sondern reflektierte Lehrkräfte, die vertrauensvolle Beziehungen zu ALLEN Kindern auf Augenhöhe aufbauen, die zentral für gelingende Mitbestimmung sind. Mitbestimmung und damit Demokratiebildung ist als Prozess zu verstehen, der kleinschrittig zu denken ist und Mut von ALLEN Akteuer:innen erfordert!

Wir danken Ihnen für das Gespräch!