Wahlzeit: Jetzt Mut zur Zukunft.
Warum wir gerade jetzt lernen müssen, Kinder und Jugendliche zu beteiligen. Auf allen Ebenen.
11.10.2024
© DKJS/ Sarah Rauch
In drei Bundesländern wählte deutlich mehr als ein Drittel der jungen Wähler und Wählerinnen im Alter von 18 bis 29 Jahren Parteien, die Angst und Hass schüren, einfache Lösungen anbieten und populistische Sicherheitsversprechen verbreiten: eine zunehmende Gefahr für unsere Demokratie. Was bringt diese jungen Menschen dazu, ihre Stimme solchen Gruppierungen zu geben und was können wir dagegen tun?
Peggy Eckert, Kindheitswissenschaftlerin und DKJS-Expertin für Demokratiebildung, verweist auf die aktuelle Zeit multipler Krisen und Sorgen um die Zukunft, in der Jugendliche heute aufwachsen. Letztlich haben die Jungen nicht so viel anders als ihre Eltern gewählt.¹. „Dabei sind für junge Menschen Zukunftsängste weitaus realer, wie wir gerade in der in der SINUS-Jugendstudie sehen konnten. Der Großteil ihres Lebens liegt schließlich noch vor ihnen. Was wir heute entscheiden, wird ihr Leben am meisten beeinflussen.“ Das Problem: Junge Menschen fühlen sich mit ihren Bedürfnissen und Problemen oft nicht gehört und haben das Gefühl, keinen Einfluss auf Entwicklungen und Entscheidungen zu haben.
„Das macht mir schon Angst, weil man als junger Mensch wird man in eine Welt geboren, die so ein bisschen vor dem Abgrund steht oder vor einem großen Desaster, wo man selber keinen Einfluss hat darauf, dass sich daran was ändert.“
Jugendliche, divers, 16 Jahre
SINUS-Jugendstudie 2024²
Laut der SINUS Jugendstudie 2024 hat sich die Situation im Vergleich zu 2020 deutlich verschlechtert: Die konstruktive Perspektive, dass man sich auch als Einzelperson informieren, mitreden und selbst in kleinem Rahmen etwas verändern kann, teilen immer weniger Jugendliche. Gerade junge Menschen aus den Mainstream-Lebenswelten fühlen sich oft machtlos und nicht gehört. Immer mehr schreiben Verantwortung häufig nur „den Politikern“ zu³. Peggy Eckert sieht hier eine große Gefahr: „Wenn Jugendliche sich nicht ernst genommen fühlen, der Politik immer weniger vertrauen und keine positiven Beteiligungserfahrungen machen, nutzen das demokratiefeindliche Kräfte, um auf Stimmenfang zu gehen.“
Generationengerechtigkeit bröckelt
Dass junge Stimmen bei Wahlen und in Diskursen geringere Bedeutung haben, wird durch die demografische Entwicklung noch verschärft. Bereits heute ist mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten älter als 53 Jahre. Wissenschaftler:innen weisen darauf hin, dass in einer älter werdenden Gesellschaft die Interessen der Kinder und Jugendlichen immer weniger mitgedacht werden. Sie bringen sogar eine Art Minderheitenschutz ins Gespräch, einen institutionalisierten Mechanismus wie beispielsweise den Jugend-Check, der alle politischen Vorhaben auf negative Auswirkungen für Kinder und Jugendliche prüft und gegebenenfalls Korrekturen erwirkt.
„In Zukunft wird es wesentlich mehr Großeltern geben als Enkelkinder. … Das ist auch eine Herausforderung für die Demokratie … und eine Verschiebung der demografischen Kräfte, die es dringend nötig macht, ganz anders über die Generationengerechtigkeit nachzudenken.“⁴
Peggy Eckert unterstützt diesen Gedanken und erinnert daran, dass es auf kommunaler Ebene schon viele gute Beispiele gibt, wie Kinder und Jugendlichen ihre Bedarfe und Interessen einbringen können. Das Team des Programms Jugend bewegt Kommune begleitet beispielsweise kleine Städte und Gemeinden in Sachsen attraktive Lebensbedingungen für junge Menschen zu schaffen.
Was wir jetzt tun können und was es dafür braucht
„Wir müssen stärker dafür sorgen, dass sich alle jungen Menschen in unserer Gesellschaft gesehen und zu Hause fühlen. Und wir müssen sie für ihre persönliche Zukunft und die Veränderungen, die unsere Welt gerade durchmacht, rüsten,“ betont DKJS-Expertin Annekathrin Schmidt und fügt hinzu, dass genau das schwieriger werden wird und Sicherheiten beim Thema Zukunft per se ein Widerspruch sind.
© bpb
Wichtig dabei: Die Jugend gibt es nicht. Gebraucht wird ein differenzierter Blick auf die Lebenswelten junger Menschen und besondere Ansätze und Formate für die größer werdende Gruppe derjenigen, die besondere Unterstützung benötigen. Dazu gehören jene, die – wie es unter Fachleuten heißt – in Risikolagen aufwachsen:
Ein Viertel der Kinder in Deutschland ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.⁵ Physische und psychische Erkrankungen unter jungen Menschen nehmen zu. Zunehmend berichten Jugendliche von Diskriminierung und Ausgrenzung. Besorgniserregend ist auch: Die Zahl von Schulabgängern ohne Abschluss wächst wieder. Diese Gruppe wird in ihren Bedürfnissen oft übersehen und kaum adressiert. Fatal, denn gerade Menschen mit geringem Schulabschluss haben in Sachsen und Thüringen auffallend häufig die die AfD gewählt.⁶
Mehr Beteiligung auf allen Ebenen
Beteiligung ist eine grundlegende Erfahrung, damit sich Heranwachsende als handlungsfähig und selbstwirksam erleben, mit Krisen und Konflikten umgehen lernen und als Persönlichkeiten und Demokrat:innen wachsen. Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung ist überzeugt: Wenn wir Kinder und Jugendliche stärken und ihnen ermöglichen, ihre Ideen einzubringen und ihr Lebenswelt aktiv zu gestalten, übernehmen sie Verantwortung für die Gesellschaft, in der sie leben wollen. Und werden resilient gegenüber Populisten. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen muss überall dort passieren, wo es sie betrifft. Entsprechend hat die Stiftung konkrete Forderungen auf struktureller, institutioneller und individueller Ebene formuliert.
Und diesen Aspekt genauer untersucht – in der Evaluation des Zukunftspakets u.a.. Das ist ein Beteiligungsprogramm, mit dem die DKJS, gefördert aus Mitteln des Bundesfamilienministeriums, Kindern und Jugendlichen ermöglicht, eigene Projekte umzusetzen und sie dabei unterstützt. Ein Weg, der Raum für Mut und Erfolg schafft und Kompetenzen vermittelt.
„Es schon super, super aufwendig und es gab sehr, sehr anstrengende Zeiten … Aber irgendwie hat diese Gruppe einfach bis zuletzt nicht aufgegeben und das durchgezogen, und darauf bin ich ziemlich stolz“.
Jugendlicher Förderfeld 1a⁸
Detailliert beschreibt die Evaluation des Programms⁹, für die 6.965 junge Kinder und Jugendliche befragt wurden, die Wirkung von Beteiligungserfahrungen. Die Aussagen der jungen Menschen in dem Bericht verdeutlichen, wie Beteiligung Selbstwirksamkeit, persönliche Entwicklung und soziale Bindungen fördert. Und wie sich dadurch der Blick darauf verändert, ob man Einfluss auf seine direkte Umgebung, aber auch auf politische Entscheidungen nehmen kann.
Beteiligung heißt nicht, dass alles, was man möchte, auch umgesetzt wird
„Kinder und Jugendliche beteiligen, heißt nicht, die Erwartungshaltung zu wecken, dass alles, was sie sich wünschen, auch realisiert werden kann“, betont Annekathrin Schmidt. Aber tragfähige Lösungen und Innovationen entstehen meist, wenn man unterschiedliche Perspektiven einbezieht und viele Interessenslagen in Entscheidungsprozessen berücksichtigt. Ob in Unternehmen, einer Gesellschaft oder in der Bildung. Eine bisweilen mühsame Aufgabe: abwägen, in Einklang bringen oder Kompromisse finden.
Der Wunsch nach einfachen Lösungen und Antworten ist in Zeiten der Transformation, hoher Unsicherheit und Komplexität besonders hoch. Dabei ist eigentlich aus den einfachsten Lebenssituationen klar, dass es meist mehrere Wege geben kann. Die Wissenschaft spricht an dieser Stelle von Ambiguität, was Mehrdeutigkeit heißt.
„Also für mich bedeutet Beteiligung, auch mal die Klappe zu halten.
Ich finde es superspannend zu beobachten, dass es Menschen gibt, die sich in großen Gruppen nicht so wohlfühlen zu sprechen … Wir hatten daher so Austauschrunden, wo wir in kleineren Gruppen gesprochen haben, wo dann die Essenz der kleinen Gruppen wieder in die große Gruppe gekommen ist, und das fand ich auch sehr schön, um nicht immer nur die gleichen Fünf zu hören.“
Jugendlicher, Teilnehmer Zukunftspaket Förderfeld 1a¹⁰
Mehrdeutigkeit auszuhalten, sich damit abzufinden, dass die eigenen Vorstellungen nicht 1:1 umgesetzt werden, beschreibt beispielsweise der Soziologe Armin Nassehi als Ambiguitätstoleranz. Dieses Aushaltenkönnen zu entwickeln und zu fördern, sei eine wesentliche Aufgabe des Bildungssystems und eine wesentliche Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft. „Bildung ist die Fähigkeit, Dinge aus der Perspektive eines anderen zu betrachten“.¹¹ In diesem Sinn in Bildung zu investieren, erscheint daher und nicht nur, aber auch wegen der aktuellen Wahlergebnisse besonders dringlich. So wird Demokratie wahrscheinlich genauso erst möglich, wie durch materiale Grundvoraussetzungen sich tatsächlich und konkret beteiligen zu können.
Wir müssen nicht nur akzeptieren, dass die Welt komplexer und unübersichtlicher geworden ist. Wahrscheinlich müssen wir auch lernen, die Mehrdeutigkeit in möglichen Antworten auszuhalten. „Nicht verzweifelt nach der einfachen Lösung zu suchen – und nach dem beruhigenden Gefühl, Recht zu haben. In Zeiten der Algorithmen und Filterblasen ist das eine echte pädagogische Herausforderung geworden“, stellt Schmidt fest.
Mehr Mut zur Zukunft
Viele Studien deuten darauf hin: Junge Menschen wählen eher im rechten Spektrum, wenn sie Zukunftsängste umtreiben. Momentan konzentriert sich die Forschung stark auf die Sorgen und Ängste junger Menschen in Bezug auf die aktuellen multiplen Krisen. Die Zukunftsforscherin Florence Gaub¹² verweist darauf, dass dieser Fokus auf die Gegenwart noch nie so stark war, wie jetzt und die Zukunft häufig als Verlustsystem wahrgenommen wird. Sie fordert daher: Zukunft muss anders und kann auch wieder positiv erzählt werden. Zukunft begreift die Forscherin als „ein Wust an Möglichkeiten“ und „das, was man daraus macht“. Sie hebt damit den gestalterischen Aspekt heraus und bestätigt so den beteiligungsorientierten und stärkenorientierten Ansatz der DKJS. Was Jugendlichen Lust auf Zukunft und Mut dafür macht, interessiert gerade das Team der DKJS-Initiative VoiceUp. Im Juli, August und September war das Team mit Diskurs-Veranstaltungen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg unterwegs und hat junge Menschen befragt. Dabei sagte eine junge Teilnehmerin: „Demokratie geht uns alle an, wir haben das große Privileg in Deutschland aufzuwachsen, wir müssen lernen, sie wieder bunt zu machen und wir müssen uns aktiv für sie einsetzen.“
Links und Downloads
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Publikation: Gemeinsam entscheiden. Gemeinsam gestalten
Handlungsempfehlungen und Inspirationen für die Praxis vom Zukunftspaket
pdf 5,99 MBpdf 5,99 MB -
Handreichung „Kinder reden mit“
Praktische Handlungsempfehlungen für pädagogische Fachkräfte an Grundschulen
pdf 473,52 kBpdf 473,52 kB -
Toolkit zur Wahl eines:r Kinderbürgermeister:in
So wählen Sie eine:n Kinderbügermeister:in. Kinder sollten an Entscheidungsprozessen in Städten und Gemeinden beteiligt werden. Das Toolkit von Demokratie aus Kinderhand zeigt, wie es geht.
pdf 235,44 kBpdf 235,44 kB -
Die Übersehenen am Übergang in die Ausbildung
pdf 3,43 MBpdf 3,43 MB -
Materialien für Kinder- und Jugendbeteiligung von Stark im Land
Ihre Ansprechpersonen
© DKJS/Stefanie Loos
© DKJS/Stefanie Loos
¹ Vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V. (06.9.2024): Grafiken zu den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, unter: https://www.forschungsgruppe.de/Wahlen/Grafiken_zu_aktuellen_Wahlen/Wahlen_2024 (abgerufen am 10.09.2024).
² Calmbach, Marc/Flaig, Bodo/Gaber, Rusanna/Gensheimer, Tim/Möller-Slawinski, Heide/Schleer, Christoph/Wisniewski, Naima (2024): Wie ticken Jugendliche? 2024. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Bonn, S. 169.
³ Vgl. ebd., S. 175.
⁴ El-Mafaalani, Aladin/ Gabbert, Baro Vicenta Ra (29. Juli 2024): Kinder in der Politik: die Vergessenen, unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/kinder-und-politik-vergessen-demographischer-wandel-pflegenotstand-folgen-lux.DL8zUwvzW9PZFjFq7tEWhe?reduced=true (abgerufen am 10.09.2024).
⁵ Vgl. Destatis (26. Juli 2023): Kinder und Jugendliche von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss besonders von Armut bedroht. Pressemitteilung Nr. N045, unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/07/PD23_N045_63.html (abgerufen am 10.09.2024).
⁶ Landtagswahl Sachsen 2024: In der Gruppe von Menschen mit Hauptschulabschluss stimmen 40 Prozent für die AfD. Bei den sächsischen Wähler:innen mit Hochschulabschluss waren es nur 16 Prozent.
⁷ Definition aus: Deutsche Kinder- und Jugendstiftung GmbH (Hrsg.) (2023): Gemeinsam entscheiden. Gemeinsam gestalten. Alle Kinder und Jugendlichen beteiligen! Berlin, S. 9.
⁸ Deutsche Kinder- und Jugendstiftung GmbH (Hrsg.) (2024): Was hat Kinder- und Jugendbeteiligung im Zukunftspaket bewirkt? Evaluationsbericht von Förderfeld 1 im Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit. Berlin, S. 94.
⁹ Ebd., S. 94.
¹⁰ Deutsche Kinder- und Jugendstiftung GmbH (Hrsg.) (2023): Gemeinsam entscheiden. Gemeinsam gestalten. Alle Kinder und Jugendlichen beteiligen! Berlin, S. 86.
¹¹ Zitat von Hans Georg Gadamer
¹² Florence Gaub (2023): Zukunft. Eine Bedienungsanleitung,
¹³ Der „Beutelsbacher Konsens“ ist Teil eines Aufsatzes von Hans-Georg Wehling für eine Tagung zur politischen Bildung im Herbst 1976 im schwäbischen Beutelsbach. Der Text enthält das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot und das Prinzip der Adressat:innenorientierung. Sie sind zu prägenden Grundsätzen politischer Bildung in Deutschland geworden. https://www.reflexionstool-demokratiebildung.de/glossar/beutelsbacher-konsens