Menschen und Geschichten

„Vernünftige Konzepte sind nicht aufzuhalten“

Üblicherweise sagt die Politik der Verwaltung, was sie machen soll. Im hessischen Weiterstadt geht die Initiative für Veränderungen aber auch schon mal von der Verwaltung aus. Wie das gehen kann schildert im Interview der Sozialpädagoge Dieter Assel. Er leitet dort den Fachbereich Kinder, Jugend und Bildung.

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Sozialpädagoge Dieter Assel

Weiterstadt ist eine prosperierende Stadt, der es wirtschaftlich recht gut geht. Trotzdem ist Bildungsgerechtigkeit ein zentrales Thema. Wie kam es dazu?

Bei einem unserer Strategietreffen mit den Kita-Leiterinnen stellte sich heraus, dass es immer mehr Kinder gibt, bei denen Armutsindikatoren erkennbar waren. Sie hatten schmutzige Kleidung an, nichts zu essen dabei oder waren nicht zum Essen angemeldet, bis hin zu Erscheinungsformen psychischer Verwahrlosung. Das war der Grund, weshalb wir gesagt haben: 'Okay, das müssen wir zum Thema machen und wir müssen daraus Schlussfolgerungen für unsere Arbeit ziehen'.

Wie sahen die Schlussfolgerungen aus?

Jede Kita hat eine Armutsbeauftragte benannt, die das Thema besetzt und Innovationen anregt. Außerdem haben wir – in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Kräften – sehr konkrete Hilfsmaßnahmen entwickelt. Das fängt an bei dem Projekt „Mittagstisch“, dass wir mit Sponsorengeldern finanzieren, und geht weiter bis dahin, dass wir mit der Erziehungsberatung ein System früher Hilfen aufgebaut haben. Die letzte Konsequenz war  eine konzeptionelle Strategie zum  Umbau von Kindertagesstätten in Familienzentren vor ein paar Jahren. Damit verfolgen wir das Ziel um jede einzelne Kita herum ein Netzwerk von Hilfen aufzubauen.

Viele Kommunen werden sagen: Das ist eine tolle Idee, aber das können wir nicht bezahlen.

Es ist keine Geldfrage, sondern eine Frage der Innovationsbereitschaft und der Haltung. Wir haben in Deutschland genug Geld in den Systemen, aber wir organisieren es falsch, weil wir in Zuständigkeiten denken und nicht in Verantwortungen. Mein Lieblingsbeispiel ist: Es gibt Schulen, an denen vier verschiedene Sozialpädagogen arbeiten, die von vier verschiedenen Trägern bezahlt werden, weil es keine Abstimmung gibt. Und da muss man sagen: 'Jetzt lasst uns mal zusammen überlegen, Schulträger, Kultusministerium und Kommune, wie wir diese Mittel zielgerichteter bündeln können auf der Grundlage eines gemeinsamen Konzeptes'. Das hat was mit regionalem Bildungsmanagement zu tun.


Es ist keine Geldfrage, sondern eine Frage der Innovationsbereitschaft
Sozialpädagoge Dieter Assel

Wie sieht das gemeinsame Konzept in Weiterstadt aus?

Die Leitbilder lauten „Das Kind steht im Mittelpunkt“ und „Jedes Kind muss mitgenommen werden“. Daran orientiert sich der Bildungsgesamtplan, der von der Stadtversammlung verabschiedet wird. Um die Umsetzung kümmert sich der Bildungsbeirat, der sich aus Vertretern aller Bildungsinstitutionen zusammensetzt. Das ist ein sehr ausgefeiltes System, das auch auf normativen Absprachen basiert. Zum Beispiel gibt es eine Kooperationsvereinbarung zwischen Stadt und Schulen, wo genau drinsteht, was jeder einzubringen hat.

Welche Aufgaben hat die Kommune?

Die Kommune ist das steuernde und fördernde Element, das die Rahmenbedingungen schafft. Zum Beispiel haben wir Kitamitarbeiterinnen 25 Prozent der Arbeitszeit zum Beobachten, Dokumentieren und reflektieren eingeräumt und bieten ihnen Fortbildungsmöglichkeiten. Die Grundschulen unterstützen wir, indem wir sozialpädagogische Fachkräfte bereitstellen, um Ganztagsschul- und integrierte Lernkonzepte weiter zu entwickeln. Insgesamt hat die Unterstützung der Stadt für Ganztagskonzepte an Grundschulen ein Volumen von ca. 800 000 Euro pro Jahr. Damit stellt die Stadt fast dreimal mehr Personalstunden sozialpädagogischer Fachkräfte zur Verfügung als das eigentlich zuständige Land Hessen. Und wir haben als Stadt durch die Kooperation mit dem Bildungsbeirat eine zentrale Steuerungsfunktion.

Und wie hat Verwaltung die Stadtverordnetenversammlung dazu gebracht, sich um die Bildungsgerechtigkeit von armen Kindern zu kümmern?

Die Verwaltung hat die Stadtverordnetenversammlung nicht „zu etwas gebracht“, sondern hat versucht, Probleme, die im Alltag erkannt wurden, zu benennen. Das hat etwas mit der Haltung zu tun, wie man Verwaltung versteht. Das klassische Modell ist: 'Ich warte, bis die Politik sagt, was ich zu machen habe, und dann mache ich das'. Unsere Philosophie lautet: 'Ich muss ein Problem identifizieren, und wenn ich es identifiziert habe, muss ich etwas dafür tun, dass es sich ändert'. Das heißt: konzeptionell Entwicklung treiben, Ideen, Vorschläge machen. Und die muss man dann gegenüber der Politik kommunizieren, indem man zum Beispiel einen Armutsbericht macht und als Vorlage in die politische Debatte gibt. Dadurch entsteht – so ist zumindest meine Erfahrung – ein positives Grundverhältnis zwischen Politik und Verwaltung. In Weiterstadt sind alle relevanten Konzepte und strategischen Orientierung in der Kinder- und Jugendarbeit weitgehend einstimmig beschlossen worden.

Wie haben die Parteien darauf reagiert?

Als wir den ersten Armutsbericht in die Öffentlichkeit gegeben haben, gab es zunächst eine Diskussion nach dem Motto: 'Bei uns gibt es keine armen Kinder. Arme Kinder gibt’s in Afrika.' Letztlich aber ist der Armutsbericht mit sehr vielen konkreten Fakten über Armutsphänomene die Ausgangsgrundlage gewesen die Parteien zum überzeugen, gezielt mit Armutsprävention zu beginnen.

Welches aktuelle Problem hat sich die Verwaltung vorgeknöpft?

Wir versuchen gerade die Bürokratie, die durch das Bildungs- und Teilhabepaket produziert wird, einzudämmen. Zum einen haben wir dazu mit Mitarbeitern der Arge und unseres Sozialamtes vereinbart, dass unsere Armutsbeauftragten der Kitas die Eltern ansprechen können und dass die Anträge nicht im Sozialamt ausgefüllt werden, sondern im Kindergarten oder in der Schule. Der zweite Schritt ist, dass wir – zusammen mit dem Landkreis als Jugend -und Sozialhilfeträger – ein gemeinsames Modellkonzept entwickeln wollen, dass möglichst wenig bürokratischen Aufwand und möglichst viel Schutz der Anonymität und Würde  für die Betroffenen ermöglicht. Außerdem gibt es eine kreisweite Tagung, bei der wir uns mit dem Bildungs- und Teilhabepaket beschäftigen werden.

Wie optimistisch sind Sie, dass sich etwas in diesem Sinne ändert?

Meine Erfahrung ist, dass sich Politiker überzeugen lassen, wenn man ihnen gute Handlungskonzepte vorlegt. Manchmal dauert es zwei oder drei Jahre, aber es ist nicht aufzuhalten, wenn es vernünftig ist, engagierte Mitarbeiter und ein gutes Bildungs- und Sozialnetzwerk dahinter stehen.

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